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Mobilfalt

Zwei Personen in einem Auto, die durch das Fenster in die Kamera lächeln.

Im Werra-Meißner-Kreis sind private Mitfahrgelegenheiten in das ÖPNV-Angebot eingebunden. Auf bestimmten Strecken kann jede:r eine private Fahrt für Mitfahrer:innen anbieten – diese Angebote erscheinen dann in der Fahrplanauskunft und können gebucht werden. Das Angebot ist Teil einer Mobilitätsgarantie, die jeden Winkel des Kreises stündlich erreichbar macht: Findet sich auf den Mobilfalt-Strecken keine private Mitfahrt, wird stattdessen ein Sammeltaxi losgeschickt.

Im Werra-Meißner-Kreis sind private Mitfahrgelegenheiten in das ÖPNV-Angebot eingebunden. Auf festen Strecken und zu festgelegten Zeiten kann jeder eine private Autofahrt für Mitfahrer:innen anbieten, ein Personenbeförderungsschein ist nicht nötig. Diese Fahrten werden über eine Software in das Angebot des Verkehrsverbundes eingebunden und sind über die entsprechenden Portale buchbar. Das soll zum einen die Mobilität im Kreis umweltfreundlicher machen und die Auslastung privater PKW erhöhen. Zum anderen ist die Initiative Teil einer Mobilitätsgarantie für den sehr ländlich geprägten Kreis: Jeder Ort soll stündlich erreichbar sein – auch dort, wo Busse selten oder gar nicht fahren – von fünf Uhr morgens bis Mitternacht. Entsprechend ist das Angebot mit einer Rückfall-Option verbunden: Findet sich für einen Verbindungswunsch keine private Mitfahrgelegenheit, wird ein Sammeltaxi losgeschickt. Egal, wie die Fahrt durchgeführt wird, Kund:innen zahlen den regulären Nahverkehrstarif in Verbindung mit einem Komfortzuschlag von einem Euro. Und wer als private:r Fahrer:in Passagiere mitnimmt, erhält pro gefahrenem Kilometer 30 Cent Aufwandsentschädigung.

Das Projekt geht auf eine Initiative des Bundeslandes Hessen zurück. Vor dem Hintergrund von Geburtenrückgang und Abwanderung aus ländlichen Gegenden sollten neuartige ÖPNV-Konzepte entwickelt werden, die sich wirtschaftlicher betreiben lassen als schlecht ausgelastete Linienbusse. Mit der Ausarbeitung und Umsetzung einer konkreten Idee wurde der Nordhessische Verkehrsverbund beauftragt, in dem sich fünf Landkreise und die Stadt Kassel zusammengeschlossen haben. Als Modellregion wurde der Werra-Meißner-Kreis auserkoren – eine besonders ländliche Region, für die die höchsten Einwohnerverluste prognostiziert waren.
Die Idee war schnell gefunden: Im Kreis waren private Mitfahrgelegenheiten etabliert, teils wurden jedoch hohe Vermittlungsgebühren von bis zu 5 Euro erhoben. Als Aufgabenträger des Nahverkehrs nahm man sich vor, diese privaten Fahrten in das ÖPNV-System zu integrieren. Damit sollte auch dafür gesorgt werden, dass diese dem bestehenden Busverkehr keine Konkurrenz machten. Der Kerngedanke dahinter: selbst bestimmen, wann und auf welchen Strecken private Mitfahrgelegenheiten zum günstigen ÖPNV-Tarif genutzt werden können.

Als Angebotsregionen wurden die Kommunen Sontra/Nentershausen/Herleshausen (als Zweckverband), Witzenhausen/Neu-Eichenberg, Großalmerode und Hessisch Lichtenau auserkoren. Die Gemeinden weisen eine besonders hohe PKW-Verfügbarkeit von etwa 700 Fahrzeugen pro 1.000 Einwohner:innen über 18 Jahre aus. Die kreiseigene Nahverkehr Werra-Meißner GmbH (NWM) wurde als zentrale Partnerin für die Umsetzung gewonnen. Wichtig dabei: Mobilfalt ersetzt keine bestehenden Busverbindungen. Die Privatfahrten sind nur auf bestimmten Strecken verfügbar und an einen Fahrplan und feste Haltepunkte gebunden.

Die Streckenplanung liegt beim Verkehrsverbund: Hier wird festgelegt, auf welchen Linien und an welchen Haltepunkten Mobilfalt-Fahrten angeboten werden. Für das Anbieten und Buchen der Fahrten wurde eine Software ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt das spezialisierte Unternehmen Trapeze: Über dessen Anwendung können Privatpersonen ihre ohnehin stattfindende Fahrten anbieten. Wird in der Buchungssoftware des Verkehrsverbundes eine entsprechende Verbindung angefragt, erhält die entsprechende Person einen Auftrag. Wird eine Fahrt angefragt, für die es noch kein Angebot gibt, erhalten alle registrierten Fahrer:innen eine Anfrage, ob sie die Fahrt übernehmen wollen. Findet sich nach 30 Minuten niemand, geht der Auftrag an das Taxiunternehmen. Die Abrechnung der Fahrt findet für Fahrtanbieter:innen ebenso wie für Mitfahrer:innen bargeldlos über die Software statt.

Dass die Buchungssoftware vergleichsweise schlicht funktioniert – Buchungsanfragen und Bestätigungen werden per E-Mail verschickt – hat Vorteile. Fahrer:innen brauchen außer einer Internetverbindung und einer E-Mail-Adresse keine weitere Technik, um Mitfahrten anzubieten.
Für kombinierte Fahrten, die aus einer Teilstrecke mit Bus oder Bahn und einer Teilstrecke mit Mobilfalt bestehen, ist jedoch noch kein einheitliches Ticket möglich. Auch die Einbindung der Mobilfalt-Fahrten in andere Software- und Auskunftssysteme ist noch nicht gelöst. Eine entsprechende Schnittstelle zum proprietären System des Dienstleisters wäre sehr teuer gewesen. Dass das Angebot entsprechend lokal begrenzt ist, ist für den Verkehrsverbund kein wesentliches Problem: Die meisten gefahrenen Strecken sind ohnehin nicht besonders lang und für die meisten Nutzer:innen ist es nicht relevant, ob sie über dieselbe Software in Kassel auch E-Bikes ausleihen können oder nicht. Vielmehr schaffe die bestehende, “kleine” Lösung Identifikation mit Region und Kreis. Die Macher:innen betonen dabei, wie wichtig es ist, dass ein Aufgabenträger solche digitalen Lösungen auch selbst einführt und betreibt. Große Firmen und Startups können vielleicht die schöneren Apps anbieten, aber nur, wenn Initiative und Engagement für solche Vorhaben aus der Verwaltung heraus kommen, können sie auch in der Region Fuß fassen.

Derzeit hat das gesamte Mobilfalt-Angebot etwa 2.000 Nutzer:innen. Insgesamt 116 Personen sind als Privatfahrer registriert, 92 davon bieten auch aktiv Fahrten an. Im Jahr 2019 (vor Beginn der Corona-Pandemie) wurden 17.000 Mobilfalt-Fahrten durchgeführt, der Anteil der Privatfahrten lag dabei bei 4 Prozent, was etwa 700 Fahrten entspricht. Dieser Anteil schwankt stark und lag in einigen Jahren davor auch schon bei 10 Prozent.
Grund für den relativ geringen Anteil der Privatfahrten ist ein Kritische-Masse-Dilemma: Bei den etwa 600 Fahrten, die pro Tag theoretisch anbietbar sind, ist die Chance, Fahrtanbieter:in und Mitfahrer:in zusammenzubringen, allein statistisch sehr gering. Die Vorlaufzeit von nur einer Stunde führt dazu, dass ein Großteil aller Fahrten über ein Taxi durchgeführt werden muss.
Auch wenn so die Auslastung von ohnehin stattfindenden privaten Autofahrten nur leicht erhöht ist, sind zwei andere Projektziele erreicht: Durch Mobilfalt hat sich erstens die Zahl der Fahrten, die nicht mit einem eigenen PKW durchgeführt werden, deutlich erhöht. Zweitens profitieren die teilnehmenden Gemeinden ungemein vom Erreichbarkeitsgewinn. So finden etwa zwischen dem Ortskern Nentershausen und dem Ortsteil Weißenhasel seit der Einführung von Mobilfalt an jedem der sieben Wochentagen knapp 20 Fahrtenpaare statt. Vorher war es von Montag bis Freitag nur die Hälfte – und am Wochenende fanden gar keine Fahrten statt.

Aktive Nutzer:innen finden sich in allen Altersgruppen, ein Schwerpunkt liegt aber auf älteren Personen, die wenig digital-affin sind. Auch wenn die Bedienung der Plattform wenig kompliziert ist, wird weit über die Hälfte aller Strecken telefonisch gebucht. Am anderen Ende der Leitung wird der Fahrtwunsch dann händisch ins System eingepflegt.
Das Projekt zeigt, dass auch Vorhaben, die in einer Planungsabteilung aus abstrakten Überlegungen heraus geboren wurden, lokal Fuß fassen können. Dafür war es notwendig, das Projekt in jedem beteiligten Dorf im Dorfgemeinschaftshaus ausführlich vorzustellen. Das war nicht nur für die Planer:innen lehrreich – es fanden sich auch lokal verankerte Personen – meist Senior:innen – die sich für die Idee begeistern konnten und bei der Bekanntmachung des Angebots sowie bei der Rekrutierung von Privatfahrer:innen halfen. Auch einer der Bürgermeister bietet nun Mitfahrten an.

Da das Angebot weiter wachsen soll, wird derzeit in die Vor-Ort-Betreuung investiert. Dafür sind zwei Personen mit jeweils 10 Stunden pro Woche beim Landkreis angestellt. Sie dienen als lokale Ansprechpartner:innen und kümmern sich um die direkte Ansprache neuer Fahrer:innen und Mitfahrer:innen – etwa auf den Wochenmärkten.

Die Hauptverantwortlichkeit für das Angebot liegt beim Verkehrsverbund. Hier haben viele Stellen mit der Umsetzung zu tun – jedoch als Teil ihrer regulären Arbeit: Verkehrsplanung, Fahrgastinformation, Buchhaltung, Öffentlichkeitsarbeit sowie die Mobilitätszentrale am Bahnhof Eschwege, die an einen Dienstleister vergeben ist. Den gesamten wöchentlichen Arbeitsaufwand im laufenden Betrieb schätzt man auf zwei bis fünf Personalstunden pro Woche, die Schaffung oder Aufstockung von Stellen war nicht notwendig. Ein Großteil dieser Arbeit wäre ohnehin angefallen: Auch für eine neue Buslinie oder einen Rufbus hätten Fahrpläne gestaltet und Marketing betrieben werden müssen.
Zu Anfangszeiten des Projekts war der Aufwand naturgemäß deutlich höher, insbesondere die vielen Infoveranstaltungen und Planungs-Workshops waren personalintensiv. Für die Betreuung der Webseite war zu dieser Zeit zusätzlich eine studentische Hilfskraft angestellt. Für Aufbau, Einführung und Etablierung des Systems hatten die Projektpartner eine Million Euro vom Land erhalten – ein Großteil davon wurde in die Entwicklung und Einrichtung der Software gesteckt. Falls das Projekt in Zukunft weiterentwickelt werden sollte, würde dafür eine eigene Stelle notwendig werden.

Klar ist, dass Mobilfalt (wie jedes ländliche ÖPNV-Angebot) ein Zuschussgeschäft ist. Im Landkreis ist es aber keine Option, die entsprechenden Regionen nicht im Stundentakt zu versorgen. Beim Verkehrsverbund weiß man: eine stündliche Bedienung per Linienbus wäre am teuersten. Und auch verglichen mit einer ausschließlichen Bedienung durch Anrufsammeltaxis oder Rufbusse kann Mobilfalt Kosten einsparen. Ein Rechenbeispiel: 2019 wurden in zwei Mobilfalt-Regionen für 180.000 gefahrene Anrufsammeltaxi-Kilometer etwa 500.000 Euro bezahlt. Mit einem Anteil von 4 Prozent an Privatfahrten kommen 7.000 private Kilometer hinzu, die durch die 30 Cent Vergütung pro Kilometer 2.100 Euro gekostet haben – wäre jeweils ein Sammeltaxi gefahren, wären es 17.000 Euro gewesen. Die Privatfahrten haben der öffentlichen Hand mithin 15.000 Euro gespart. Entsprechend denkt man bei Kreis und Verkehrsverbund: je mehr Privatfahrten, desto günstiger das ÖPNV-Angebot.
Hinzu kommen die Kosten für die Software (Hosting, Nutzung und Support) sowie Personalkosten für die Vor-Ort-Betreuung. Man überschlägt beim Verkehrsverbund, dass eine Versorgung über Mobilfalt auch inklusive dieser Projektkosten wirtschaftlicher ist als ein Anrufsammeltaxi im Stundentakt, sobald der Anteil von Privatfahrten über 5 Prozent liegt.
In eine Kosten-Nutzen-Abwägung gehört auch, dass die lokalen Taxiunternehmen ganz wesentlich vom Mobilfalt-Angebot profitieren – für einige ist das Angebot inzwischen das Kerngeschäft. Die Verbindung von Privatfahrten und Sammeltaxi-Verkehr ist so auch regionale Wirtschaftsförderung.

Kern der Bemühung für die Zukunft ist es entsprechend, mehr private Fahrer:innen zu finden und so die Wirtschaftlichkeit zu verbessern – hier spielen die beiden Vor-Ort-Mitarbeiterinnen des Landkreises eine zentrale Rolle. Auch wurde bereits mit einem Angebot im fahrplangebundenen 10-Minuten-Takt experimentiert, was dazu geführt hat, dass mehr Privatfahrten angeboten wurden.
Zudem steht man im engen Austausch mit dem Odenwaldkreis, der als Teil seiner Mobilitätsgarantie ebenfalls private Mitfahrten in sein Nahverkehrsangebot integriert hat. Wer dort nach ÖPNV-Verbindungen sucht (ob per Webseite, App oder Telefon-Hotline) bekommt gleichwertig alle Verkehrsoptionen angezeigt: Bus- und Bahnverbindungen, Rufbusse sowie private und gewerbliche Mitfahrmöglichkeiten. Anders als im Werra-Meißner-Kreis sind die Mitfahrangebote jedoch nicht an Fahrpläne gebunden. Dafür fällt für die Taxi-Ersatzfahrt ein entfernungsabhängiger Zuschlag an, der sich durch Vorausbuchung reduzieren lässt. Die Taxifahrt ist jedoch immer deutlich teurer als die private Mitfahrt. Auch bei Mobilfalt wird diskutiert, zukünftig diesen Weg zu gehen und dadurch näher an ein “Echtpreisprinzip” zu kommen.

Doch auch die Natur des Angebotes könnte sich ändern. So ist man gewillt, das Prinzip der festen Strecken und Fahrpläne auf den Prüfstand zu stellen. Solche attraktiven, flexiblen Angebote zu schaffen sieht man als den einzigen Weg, Menschen vom Auto wegzulocken – dies benötige dem Projektteam zufolge jedoch einen Kulturwandel, da die “Fahrplanlogik” noch tief in der DNA eines Verkehrsunternehmens stecke. Kern zukünftiger Angebote sollen die freiwilligen Fahrer:innen bleiben. Welche Bedienform dieser ehrenamtliche Personenkreis mit welchen Fahrzeugen zukünftig umsetzen wird, ist offen – die Freiwilligen werden zum Teil eines “virtuellen Verkehrsunternehmens”. Denkbar ist durchaus auch, dass sich der zukünftige Betrieb an flexible Rufbusse oder Ridepooling-Shuttles annähern wird und von freiwilligen und fest angestellten Fahrer:innen gemeinsam umgesetzt wird.

Informationen Landkreis

Werra-Meißner-Kreis (Hessen)
Fläche: 1.025 km2
Einwohner:innen: 100.046
98 Einwohner:innen je km²